Gastkommentar von Stefan Riße, Finanzanalyst und Börsenkorrespondent für “N-TV”
Die aktuellen Entwicklungen an den Finanzmärkten sind von widersprüchlichen Signalen geprägt. Während einige Indikatoren auf wirtschaftliche Erholung hinweisen, gibt es gleichzeitig Anzeichen für Unsicherheit und mögliche Rückschläge. Welche Faktoren beeinflussen diese komplexe Marktlage?
Der Optimismus am Aktienmarkt nimmt weiter zu. Auch Goldman Sachs hat mittlerweile die Jahresend-Rallye ausgerufen. Und ja, bisher liegen sie und andere mit ihrer Zuversicht richtig. Saisonbedingt darf die Angst kleiner werden: Der statistisch schwächste Börsenmonat, der September, liegt hinter uns, und auch der berüchtigte Crash-Monat Oktober ist bereits zu einem Drittel geschafft.
Selten folgt ein Crash direkt auf das Erreichen neuer Höchstkurse. In der Regel bröckelt der Markt erst, bevor es richtig abwärts geht. Doch aktuell geht es nicht abwärts, sondern erreicht der S&P 500 Index neue Rekorde. Insofern kann man zuversichtlich sein, dass der Crash zumindest mal im Oktober ausbleibt. Und so rückt mittlerweile sogar das Goldilocks-Szenario wieder in realistische Nähe.
Zinssenkungen versus Quantitative Tightening
Die derzeitigen Optimisten begründen ihre Zuversicht so: Die Inflationsraten sinken, die Wirtschaft schwächt sich ab. Das könnte den Notenbanken erlauben, die Geldpolitik weiter zu lockern. Dadurch könnte eine Rezession vermieden werden und Unternehmensgewinne könnten weiter steigen. Das klingt schlüssig und es ist durchaus möglich, dass sich dieses Szenario am Ende durchsetzt. Allerdings gibt es wie immer Unbekannte in der Rechnung.
Der Zinsoptimismus ist momentan sehr groß und könnte wie schon Anfang des Jahres übertrieben sein. Wieder steigende Energiepreise und plötzlich 0,5 Prozent mehr Inflation könnten dem Zinsoptimismus einen Strich durch die Rechnung machen. Außerdem könnten die stark gestiegenen Zinsen seit 2022 noch Wirkung entfalten, insbesondere dort, wo Zinsbindungen aus der Nullzinsphase erst in Zukunft auslaufen. Nicht zu vergessen: Die US-Notenbank fährt mit dem Prozess des Quantitative Tightening weiterhin einen restriktiven Kurs auf dieser Seite der Geldpolitik.
Dienstleistungen versus verarbeitendes Gewerbe
Ist das Thema Rezession vom Tisch? Trotz vieler Anzeichen in den vergangenen zwei Jahren ist sie bisher nicht eingetreten. Dennoch gibt es nach wie vor viele Indikatoren, die darauf hindeuten, dass die Konjunktur nicht rosig aussieht. Von Deutschland rede ich gar nicht, das sich quasi in einer Dauerrezession befindet. Doch auch andernorts sind gegenläufige Trends festzustellen: Das verarbeitende Gewerbe steckt in einer Rezession, während die Dienstleistungen davon weitgehend unberührt sind. Dieses Bild zeigt sich vor allem in den USA und in abgeschwächter Form auch in Europa, wobei die Einkaufsmanagerindizes für den Dienstleistungssektor in der Eurozone zuletzt ebenfalls rückläufig waren und nur noch knapp über der Wachstumsschwelle von 50 notieren.
Sollte sich der Dienstleistungssektor oberhalb der Nulllinien halten, könnte eine Rezession vermieden werden. Dies spräche dann auch weiter für Unternehmen des Dienstleistungssektors, wie beispielsweise Alphabet, Meta, Microsoft und letztlich auch Apple, die zwar Mobiltelefone bauen, aber eher als Dienstleistungsunternehmen betrachtet werden.
Die Halbleiterindustrie unterliegt ohnehin oft eigenen Zyklen und der KI-Boom wird weiter eine Sonderkonjunktur haben. Es bleibt die Frage, ob das verarbeitende Gewerbe am Ende die gesamte Wirtschaft mit nach unten zieht. In Deutschland werden wir dies besonders gut beobachten können, da hier die Rückgänge in diesem Bereich am stärksten sind, verglichen mit anderen Industrieländern.
Aktienkäufe versus Bewertungen
Betrachtet man das Verhältnis von Angebot und Nachfrage, spricht vieles für Aktien und eine Fortsetzung des Aufwärtstrends. In den USA befinden sich autorisierte Aktienrückkäufe durch große Unternehmen, die wichtigste Nachfrageseite der vergangenen Jahre, auf Rekordniveau, wenn man die ersten neun Monate dieses Jahres mit den Vorjahren vergleicht. Demgegenüber steht trotz Rekordkursen ein sehr geringes Volumen an Neuemissionen.
Das war beispielsweise 2021 anders, als viele Unternehmen während des Post-Corona-Booms an die Börse gingen. Betrachtet man jedoch die Durchschnittsbewertungen, zeigt sich, dass bei einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 22 im S&P 500 Index in der Vergangenheit die Renditen der folgenden Jahre mager ausfielen. In der Tat stellt sich die Frage, wo das Wachstum nach der jüngsten Rallye herkommen soll. Allerdings ist das Bild uneinheitlich: Betrachtet man den S&P 500 Equal Weight, also gleichgewichtet, liegt die Bewertung nur leicht über dem Median der Vergangenheit.
Mid Caps sind gerade mal so bewertet wie in früheren Zyklen, Small Caps sogar darunter. Europa ist von den bekannten Qualitätsaktien abgesehen, insgesamt billig. Alles in allem könnte es darauf hinauslaufen, dass weder der breite Bullenmarkt weitergeht noch ein Crash kommt. Vielleicht erleben wir zukünftig einen Aktienmarkt, in dem sich vor allem selektive Chancen bieten, während die großen Indizes, angeführt von hoch gewichteten Technologietiteln, die wirklich nicht mehr günstig sind, eher seitwärts laufen.