Kommentar von Hermann Kutzer, ehem. Börsenkorrespondent für das Handelsblatt und “N-TV”
Hallo Leute! Glaubt ja nicht, die Börsenprofis wüssten (auch nur einigermaßen) genau wie’s weitergeht. Momentan sowieso nicht. Denn es gibt einfach zu viele Fragezeichen. Deshalb sollten kurz- und mittelfristige Anleger nicht nach einem klaren Trend suchen – den gibt’s noch nicht, weder kursmäßig noch stimmungstechnisch. Schon ein oberflächlicher Rückblick auf den bisherigen Jahresverlauf zeigt, wie uneinheitlich die Aktienmärkte sind. Den Uralt-Börsenspruch „Geht Butter, geht Käse“ (= alles geht, Metapher für einen Trend) kennen junge Akteure gar nicht mehr. Ausreißer aus dem Kursbild insgesamt, die vor Jahrzehnten als „Sonderbewegungen“ innerhalb eines Trends bezeichnet wurden, sind längst auf der Tagesordnung. Mein Bauchgefühl signalisiert weder Hoffnung auf eine nachhaltige Hausse von Dax & Co. noch Angst vor einem drohenden Crash. Prominente Anlagestrategen ticken ähnlich und formulieren ihre Marktbetrachtungen betont vorsichtig. Manchmal muss man deren Aussagen mindestens zweimal lesen, um die konkrete Meinung zu verstehen.
Die Kombination aus geopolitischen Spannungen, einer anhaltend hohen Inflation, schnell nachlassender Wirtschaftsdynamik und in die Enge getriebener Zentralbanken, die deutlich „hinter die Kurve“ gefallen sind, bieten ein „herausforderndes Umfeld“ für Anleger, heißt es in der Wochenanalyse von Allianz Global Investors (AllianzGI). Herausfordernd heißt schwierig, nix für Ängstliche. Und der Vordenker Hans-Jörg Naumer (den ich besonders schätze) ergänzt: „Aus fundamentaler Sicht legt dies nach wie vor eine insgesamt vorsichtige Haltung gegenüber riskanten Anlagen nahe.“ Enttäuschungen wegen zwischenzeitlich aufgeflammter Hoffnungen, die Fed könne doch etwas weniger restriktiv verfahren als angenommen, sind da ebenfalls nicht auszuschließen. Die Staatsanleihenmärkte bewegen sich zwischen den Antipoden erhöhter Inflations- und nun steigender Rezessionsrisiken. Kein einfaches Navigieren!
Auch der globale Investmentmanager Federated Hermes (Pittsburgh) denkt ähnlich: Es ist noch zu früh, um mit Zuversicht zu behaupten, dass die Inflation unter Kontrolle ist. Denn in der Tat gibt es nach wie vor Engpässe in den Lieferketten, und Russlands Krieg in der Ukraine entzieht sich eindeutig der Kontrolle der Zentralbanken. Aber es gibt erste Anzeichen dafür, dass die Inflation ihren Höhepunkt erreicht haben könnte. Angesichts der sinkenden Rohstoffpreise richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Wohnkosten und die Lohnsteigerungen, um die neue Normalität der Inflation zu ermitteln: Die Zeiten, in denen die Zentralbanken um ein Inflationsziel von 2 Prozent kämpften, scheinen nun weit entfernt zu sein. Und die Inflation könnte sich auf einem Niveau einpendeln, das zu Beginn des Jahres kaum vorstellbar war. Diese Entwicklung wirft einen schweren Schatten auf die Aktienmärkte, trotz der jüngsten Anzeichen dafür, dass sich das Tempo der Zinserhöhungen in den USA verlangsamen wird. Wörtlich schreiben die Portfolio Manager: „Wir sind nach wie vor optimistisch, dass sich die derzeitige Rally zu einem längerfristigen Bullenmarkt entwickeln wird. Wir sind uns aber bewusst, dass die geopolitischen Risiken nach wie vor hoch sind und es zu früh ist, die Möglichkeit einer Bärenmarkt-Rally auszuschließen. Die Risikobereitschaft der Anleger ist nach wie vor unbeständig.“
Auch beim Helaba-Research herrscht ein eher zuversichtlicher Grundton: Angesichts des Rückgangs beim ZEW-Index dürften die Marktteilnehmer zwar auf schwache Werte vorbereitet sein. Kurzfristiger Rückenwind für Aktien ist jedoch nicht zu erwarten. Allerdings spricht das niedrige Niveau der Frühindikatoren dafür, dass der Wachstumspessimismus bald seinen Höhepunkt erreicht. Aktien nehmen eine Konjunkturerholung rund ein halbes Jahr vorweg. Kurzfristig kann es in dieser Gemengelage zwar noch zu Kursrücksetzern kommen. Diese würden allerdings mittelfristig orientierten Anlegern aufgrund der moderaten Bewertung deutscher und europäischer Titel die Gelegenheit zum Einstieg bieten.
Seid geduldig und handelt selektiv, meine Freunde. Kurzfristig möchte ich hinzufügen, dass auch die neue Woche keine klaren Trendsignale verspricht.