Gastkommentar von Stefan Riße, Finanzanalyst und Börsenkorrespondent für “N-TV”
Sich einmal gezahlte Steuern mehrfach erstatten zu lassen: Das ist die so genannte “Cum-Ex”-Masche, mit der Reiche Milliarden aus der Staatskasse plünderten. Ihre Verfahren aber drohen nun im Sande zu verlaufen: Es ist ein Skandal im Skandal.
Wer derzeit Aktien besitzt, kann sich freuen – nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland. Trotz wirtschaftlicher Unsicherheiten erreicht der Dax immer neue Rekorde. Und obwohl es aktuell so aussieht, als könne man mit Aktien nur Gewinne machen, wird es irgendwann wieder eine Phase geben, in der die Kurse fallen und Verluste entstehen.
Bis vor einigen Jahren gab es jedoch eine Möglichkeit – so meinten es zumindest findige Steuerexperten und Rechtsanwälte, mit Aktiengeschäften vollkommen risikofreie Gewinne zu erzielen – und zwar auf Kosten des Staates. Bekannt sind diese Geschäfte unter dem Namen Cum-Ex.
Dabei wurden am Tag des Dividendenstichtags Aktien so oft hin- und her gehandelt, dass durch geschickte Konstruktionen wie Short-Verkäufe mehrfach ein Aktienbesitz vorgetäuscht wurde, der in Wahrheit gar nicht existierte. Das Ergebnis: Die Beteiligten erhielten mehrfach Steuergutschriften auf einmal abgeführte Kapitalertragsteuer.
Ungeahnte Summen wurden so „verdient“ und es dauerte Jahre, bis der Gesetzgeber diese Praxis eindeutig unterband. Milliardensummen gingen der Staatskasse und damit den Steuerzahlern verloren.
Bei Cum-Ex profitierte die Finanzelite auf Staatskosten
Diese Machenschaften hätten möglicherweise ungehindert weitergehen können und wären nie aufgeflogen, wenn es nicht Staatsanwältin Anne Brorhilker in Köln gegeben hätte. Mit großem Eifer begann sie, das scheinbare „Steuerschlupfloch“ zu untersuchen, fest davon überzeugt, dass die Rückerstattungen unrechtmäßig waren.
Als klar wurde, dass der Strafverfolgung nicht zu entgehen war, änderten einige Beschuldigte ihre Strategie. In der Hoffnung auf Strafmilderung oder Straffreiheit kooperierten sie mit der Staatsanwaltschaft. Die Ermittlungen brachten ans Licht, dass die renommierten Steuerberatungsgesellschaften, Anwaltskanzleien sowie in- und ausländische Banken an den Cum-Ex-Geschäften beteiligt waren.
Geldgeber und Hauptprofiteure waren häufig bekannte Unternehmer. Angesprochen wurden vor allem Personen mit dreistelligem Millionenvermögen. Cum-Ex war ein exklusives Geschäft, das nur der Top-Finanzelite vorbehalten war.
Doch durch die von der Staatsanwaltschaft Köln angestrebten Verfahren wurde schließlich klargestellt, dass diese Geschäfte illegal waren. Bis Mai 2024 leitete Anne Brorhilker insgesamt 15 Verfahren, keines davon endete mit einem Freispruch. Der Bundesgerichtshof (BGH) bestätigte die erstinstanzlichen Urteile bereits vor zwei Jahren und stellte fest: „Es ist denklogisch unmöglich, eine einmal gezahlte Steuer mehrfach zurückzuerstatten.“ Den Beteiligten sei von Anfang an klar gewesen, dass dies vom Staat niemals beabsichtigt war.
Cum-Ex-Staatsanwältin Brorhilker gebührt Verdienstkreuz
Nicht nur die Finanzelite, sondern auch die Politik spielte in der Cum-Ex-Affäre eine fragwürdige Rolle. Besonders brisant: Unser heutiger Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) pflegte offenbar in seiner Zeit als Bürgermeister von Hamburg enge persönliche Kontakte zur Warburg Bank, die im Bereich Cum-Ex-Geschäfte ebenfalls eine unrühmliche Rolle spielte.
Ein ehemaliger Generalbevollmächtigter der Bank sitzt in Haft, gegen den früheren Bankchef Christian Olearius wurde das Verfahren allein aus gesundheitlichen Gründen eingestellt. Hamburg verzichtete damals darauf, von der Warburg Bank fälschlich erstattete Steuern zurückzufordern – nur durch die Hartnäckigkeit der Staatsanwaltschaft Köln konnte dies später korrigiert werden.
Scholz musste in dieser Woche nun zum dritten Mal vor dem zur Untersuchung dieser Angelegenheit eingesetzten Untersuchungsausschuss aussagen. Er beruft sich auf Erinnerungslücken. Doch es bleibt der Verdacht im Raum, dass der Bürgermeister im Gegenzug für Parteispenden Warburg habe davon kommen lassen wollen. Beweisen wird man es wohl nicht können.
Anne Brorhilker musste ihre Arbeit jedoch unter schwierigen Bedingungen erledigen. Ihr Einsatz brachte zwar einen dreistelligen Millionenbetrag zurück in die Staatskasse. Doch stieß ihr Engagement bei Vorgesetzten und in der Politik nicht auf Gegenliebe. Nachdem sie bereits erfolgreich Verfahren zu Ende gebracht hatte, entmachtete sie der Justizminister von Nordrhein-Westfalen Benjamin Limbach (Grüne) einfach und teilte ihr Ressort auf.
Nur starke Proteste aus der Öffentlichkeit sorgten dafür, dass dieser Schritt zurückgenommen wurde. Ihr Vorgesetzter kritisierte sie trotzdem weiterhin. Am Ende gab Brorhilker frustiert auf, um sich dem Verein Finanzwende anzuschließen. Sie äußerte anschließend in Interviews, sie habe den Eindruck, dass Straftaten, wenn sie von den obersten Kreisen der Gesellschaft begangen würden, nicht konsequent verfolgt würden. Anstatt sie herauszuekeln, hätte man Brorhilker eigentlich das Bundesverdienstkreuz verleihen sollen.
Cum-Ex-Skandal schadet Rechtsstaat und Demokratie
Seit Brorhilkers Abgang hat es keine weitere Anklage gegeben in Sachen Cum-Ex, obwohl die Staatsanwaltschaft Köln in 130 Fällen gegen 1.700 Beschuldigte ermittelt. Extra für Cum-Ex-Verfahren wurde in Siegburg ein Gerichtsgebäude gebaut, die Rede war von Anklagen am Fließband.
Noch aber bleiben die Räume ungenutzt. Verjährung droht zwar nicht, weil der Beginn von Ermittlungen diese anhält. Trotzdem sagen Experten, dass mit immer größerer Dauer der Verfahren das Strafmaß sich mindert, weil die Ermittlungen für die Betroffenen schon als Belastung angerechnet werden.
Auch wird immer weniger Geld zurückzuholen sein, je länger die Straftat her ist. Beobachter rechnen mittlerweile damit, dass viele Verfahren womöglich durch Absprachen gegen Zahlungen eingestellt werden mit dem so genannten Freispruch zweiter Klasse.
Sieht der Ausgang des Cum-Ex-Komplexes, der den größten Griff in die Kasse des Staates aller Zeiten darstellt, so aus wie oben beschrieben, wäre dies ein schwerer Schlag nicht nur für den Rechtsstaat, sondern auch für die Demokratie. Schon heute gibt es nicht wenige, die glauben, dass die Politik und die Medien unter einer Decke stecken, orchestriert durch Eliten, die das Kapital in den Händen halten.
Wenn die Cum-Ex-Verfahren nun nicht vorangetrieben, sondern zunehmend geräuschlos abgewickelt werden, dann werden sich diese Kreise umso mehr bestätigt fühlen und mit Sicherheit neuen Zulauf bekommen. Der Glaube an unsere Demokratie und seine rechtsstaatlichen Institutionen würde massiv erschüttert. Die Öffentlichkeit sollte daher hohen Druck auf Politik und Staatsanwaltschaften ausüben, damit dies vermieden wird. Denn dieser Schaden wäre langfristig womöglich noch größer als der finanzielle, den die Cum-Ex-Geschäfte angerichtet haben.