Impfstoff-Party am Aktienmarkt
Gastkommentar von Stefan Riße, Finanzanalyst und Börsenkorrespondent für “N-TV”
Ein Impfstoff gegen Corona mit einem Wirkungsgrad von 90%. Diese Nachricht des Mainzer Biotechnologieunternehmens Biontech und des Pharma-Riesen Pfizer aus den USA sorgte an den Börsen für einen rekordverdächtigen Stimmungsumschwung und bescherte dem DAX einen seiner größten Tagesgewinne in diesem Jahr. Doch auch zuvor hatten die Aktienkurse bereits kräftig zugelegt entgegen der Erwartung der Mehrheitsmeinung. Denn in einem Punkt waren sich die Auguren alle einig: Stünde nach der Wahlnacht in den USA kein klarer Sieg fest, sondern bliebe das rennen offen, dann wäre dies die schlechteste Konstellation für die Finanzmärkte.
Und was passierte? Ganz kurz knickten die Aktien ein und dann kam es bereits zu einer kräftigen Erholung und zu Kursgewinnen über das Niveau von vor der Wahl, und das, obwohl unklar war, ob nun Joe Biden oder Donald Trump die Wahl gewonnen hatte. Je stärker sich in den folgenden Tagen Joe Biden als Sieger herausschälte, desto besser wurde die Stimmung an den Märkten. Auch hier lagen die meisten Experten falsch. Hatten sie jedoch damit gerechnet, dass eine Abwahl Donald Trumps, der ja schließlich für Steuersenkung stand, die Börsen belasten würde. Auch die großen Technologieunternehmen in den USA sollten unter Biden mehr zittern müssen vor Anti-Trust-Gesetzen, hieß es. Doch auch dies spielte plötzlich keine Rolle mehr. Verlässlichkeit in der Politik war das, worauf die Märkte plötzlich setzten. Doch vermutlich wären die Börsen auch im Fall eines Wahlsiegs von Trump gestiegen. Politische Börsen haben kurze Beine und die Wahl war auch in der noch unklaren Situation wieder das berühmte Fait accompli“, die vollendete Tatsache, auf die es nichts mehr zu spekulieren gibt.
All dies unterstützt wieder einmal die These, dass die Stimmungsanalyse mit ihrem antizyklischen Ansatz wohl das wertvollste Werkzeug für das kurzfristige Timing an den Finanzmärkten ist. Die Stimmung hat sich deutlich aufgehellt, wir sind von Euphorie jedoch noch entfernt. Die Stimmungsindikatoren geben weder klare Kauf- noch klare Verkaufssignale. Grundsätzlich ist der Optimismus zumindest aber so groß, dass schlechte Nachrichten von der Corona- und damit Wirtschaftsfront Kursverluste bei den Aktien auslösen könnten. Ein Crash wie im Frühjahr ist allerdings höchst unwahrscheinlich.
Wenn von der Stimmung keine klaren Signale erhältlich sind, ist es sinnvoll zu schauen, wie sich die Liquiditätssituation darstellt. Und hier wächst die Geldmenge M1 – also die kurzfristige, für den Aktienkauf theoretisch verfügbare Liquidität – in den USA aktuell mit 40 Prozent gegenüber Vorjahr. Das ist eine unglaubliche Unterstützung des Aktienmarkts. Vor diesem Hintergrund wäre es eine hochriskante Strategie, nicht in Aktien investiert zu sein. 2021 dürfte aufgrund der fortschreitenden Impfungen und der damit einhergehenden Normalisierung des Lebens die Wirtschaft wieder wachsen. Das, gepaart mit den unglaublichen Geldmengen, bringt dann wieder die beste aller Welten. Doch dabei könnte es zu einem Favoritenwechsel kommen, der mit der Impfstoff-Meldung und, wenn man genau hinschaut, bereits früher begonnen hat. Zyklische Werte sind wieder mehr im Fokus, während die großen, schnell wachsenden Technologieriesen etwas an Popularität verlieren. Letztere bleiben fantastische Unternehmen mit wahrscheinlich weiter großen Wachstumsraten und sehr hohen Gewinnmargen. Aber extrem viel davon ist eben auch schon eingepreist, und wenn Licht am Ende des Konjunkturtunnels zu sehen ist, dann ist es nicht verwunderlich, wenn es zu einer Umschichtung in die dagegen völlig unterbewerteten klassischen Value-Aktien kommt.