Gastkommentar von Stefan Riße, Finanzanalyst und Börsenkorrespondent für “N-TV”
Die Europäische Zentralbank (EZB) hat nun die Zinsen erhöht, und zwar um ganze 0,5 Prozent. Das war immerhin doppelt so viel wie der Markt erwartet hatte. Relativ gesehen fällt die Zinserhöhung damit um 100 Prozent höher aus, was ja sehr ordentlich ist. Doch das Ganze relativiert sich sehr schnell, wenn man sich ansieht, wo der Einlagenzins jetzt steht. Denn statt minus 0,5 Prozent liegt er jetzt bei null Prozent. Das hat mit echter Inflationsbekämpfung natürlich nichts zu tun. Es ist reine Symbolpolitik, die zeigen soll, dass der EZB die Inflation nicht ganz egal ist. Es zeigt aber auch, dass meine These stimmt, der gemäß echte Inflationsbekämpfung wie Anfang der achtziger Jahre nicht möglich sein wird. Damals lagen die Inflationsraten im Bereich von bis zu 7 Prozent in Deutschland und die Leitzinsen wurden auf dieses Niveau angehoben. So sieht echte Inflationsbekämpfung aus, weil nur dann, wenn Anleger auf dem Konto ungefähr den Zins bekommen, den das Geld an Wert verliert, das Geld wieder auf die Sparkonten fließt und somit nicht in den Konsum. Doch würde man eine solche Politik heute betreiben, würde die Eurozone in eine schwere Rezession und in die nächste Eurokrise rutschen. Viel zu hoch sind die Schulden. Natürlich, die EZB könnte im Gegenzug immer mehr Anleihen beispielsweise von Italien kaufen, um deren Finanzierung auch zu viel höheren Zinsen sicherzustellen, am Ende würden die höher verschuldeten Länder der Eurozone aber nur noch immer mehr neues Geld leihen, um die Zinslast schultern zu können. Das Ende wäre dann wahrscheinlich ein kompletter Vertrauensverlust in die Gemeinschaftswährung.
Zu große Zinsunterschiede zu bekämpfen, ist richtig
Die EZB hat gestern aber nicht nur die Zinsen erhöht, sondern auch ein Programm namens TPI aufgelegt, das ihr im Bedarfsfall ermöglicht, in den Markt der Staatsanleihen dahingehend einzugreifen, zu große Zinsunterschiede zwischen den einzelnen Ländern durch gezielte Anleihekäufe und -verkäufe zu verhindern. Der Reflex der deutschen Stabilitätsapostel war schon im Vorfeld absehbar. Die EZB dürfe dies nicht, damit die Marktkräfte Länder mit unsolider Haushaltspolitik über höhere Zinsen zu einer Konsolidierung zwingen. Es ist die immer gleiche Leier seit Ausbruch der Eurokrise und sie ist heute genauso wenig richtig wie damals. Gerade der Blick auf Italien, das man hier immer im Auge hat, zeigt, wie falsch diese These ist und wie falsch auch der Markt liegt. Ja, die Staatsverschuldung Italiens ist eine der höchsten in Eurozone, die Gesamtverschuldung also einschließlich Unternehmen und Privathaushalten ist aber die viertgeringste mit gut 250 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt. Frankreich hingegen hat eine Gesamtverschuldung von 350 Prozent und lebt immer noch über seinen Verhältnissen. Das war in Italien bis zur Corona-Krise nicht mehr der Fall. Das Land erwirtschaftete jahrelang Primärüberschüsse. Das bedeutet, dass der Staatshaushalt ausgeglichen war und nur die Zinszahlungen für ein Defizit sorgten. Hier hatte Italien aus der Zeit, in der die Anleihezinsen noch sehr hoch waren, einen eben nicht geringen Dienst zu leisten. Die gesunkenen Anleiherenditen verringerten demgemäß das letzte Problem, das Italien auf der Schuldenseite noch hatte. Nichtsdestotrotz meint man in Deutschland, der Markt müsste dieses Problem erneut erschaffen, damit Italien spart. Dabei haben die letzten Jahre bis zur Corona-Krise doch gezeigt, dass Italien auch bei den dann geringen Anleihezinsen nicht zu einer erneuten Verschuldungspolitik übergegangen ist. Es braucht hier nicht den Zuchtmeister der hohen Zinsen. Ließe man sie aber doch zu, dann bestünde die Gefahr, dass das Land es nicht schafft, aus der Krise zu kommen, weil die Belastungen einfach zu hoch sind. Wir erinnern uns: Der Ausbruch von Corona in Europa fand in Norditalien statt. Und hier konnte man schön beobachten, welche Folgen das zusammengesparte Gesundheitssystem hatte. Irgendwo sind die Grenzen der Belastbarkeit erreicht und dann steht plötzlich alles auf dem Spiel in einem Land, in dem es mittlerweile links und rechts extreme Kräfte im Parlament gibt mit nicht unerheblichen Stimmenanteilen. Auch aktuell gibt es wieder eine Regierungskrise. Aber wir dürfen beruhigt sein. Die Bundesbank-Stabilitätspolitiker à la Jürgen Stark, Axel Weber, Jens Weidmann und jetzt Joachim Nagel sind in der EZB längst die Minderheit. Durchgesetzt hat sich die Linie von Mario Draghi, der mit seinem Satz „Whatever it takes“ damals im Jahr 2012 auf dem Höhepunkt der Eurokrise klargemacht hat, dass auch in diesem Währungsraum keine Staatspleiten passieren werden, weil die Zentralbank als letzte Instanz dies verhindern wird.
EZB-Politik ungefährlich für Aktienmärkte
Italienische Aktien wie aber auch italienische Staatsanleihen erscheinen vor diesem Hintergrund nicht unattraktiv, zumal Italien den größten Teil aus dem Corona-Wiederaufbaufonds von insgesamt 750 Milliarden Euro erhalten wird. Das Geld soll für Investitionen vor allem auch im Bereich erneuerbare Energien ausgegeben werden. Bekommt man wieder eine stabile Regierung nach Möglichkeit unter Beteiligung von Mario Draghi hin, könnte das Land da stehen, wo Deutschland stand, als die Agenda 2010 verabschiedet wurde. Der Wiederaufstieg vom kranken Mann Europas ist hinlänglich bekannt. Insgesamt betrachtet ist die aktuelle EZB-Politik harmlos für die Aktien. Natürlich gilt auch hier, die Politik aus 2021 mit Anleihekäufen und negativen Zinsen war noch besser, aber wenn es bei diesen homöopathischen Dosen in der Zinspolitik bleibt, dann dürfte die Belastung für europäische Aktien begrenzt sein. Bleiben nur der Ukraine-Krieg und eine mögliche Energiekrise als Damoklesschwert. Eine Voraussage diesbezüglich ist schwierig, man muss die Situation Tag für Tag beobachten. Noch ist daher Vorsicht bei europäischen Aktien geboten. Ist allerdings ein Ende dieses Konfliktes in Sicht, haben die Länder der Eurozone und ihre Aktien großen Nachholbedarf.