Ein Kommentar von Carsten Witt, stellv. Geschäftsführer des Niedersächsischen Anlegerclubs (NDAC)
Am 24. Februar 2023 ist es ein Jahr her, dass die russischen Truppen auf Befehl von Präsident Wladimir Putin das Nachbarland Ukraine überfielen. Geplant war keinesfalls ein Jahr Krieg zu führen, in nur 72 Stunden sollte der Feldzug beendet sein. Schließlich wartete das ukrainische Volk nur auf die Befreiung vom faschistischen Joch und die Wiedervereinigung mit Mütterchen Russland. So die offizielle russische Propaganda.
Ein Jahr später wurde immer noch nichts wiedervereinigt, einmal abgesehen von den annektierten Gebieten, über die die russische Armee aber keine vollständige Kontrolle hat. Und die ukrainische Regierung hat sich nun schon ein Jahr während des Krieges erfolgreich im Amt gehalten.
Dafür wurden sofort einige Sanktionen durch EU-Beschluss gegen Russland in Kraft gesetzt. Und die Wirkung dieser Sanktionen hat, um es vorwegzunehmen, dem Westen mehr geschadet als Russland. Laut IWF wird Russland auf absehbare Zeit sogar schneller wachsen als Deutschland.
Das westliche Angebot und die russische Nachfrage finden auch in Zeiten der Sanktionsregime zueinander. In Russland wird konsumiert und nicht kollabiert, so wie umgekehrt die russischen Rohstoffe auf verschlungenen Pfaden zur Kundschaft gelangen.
Beleuchten wir das einmal näher.
Das russische Finanzsystem, das man kurz nach Kriegsbeginn vom internationalen Zahlungsverkehr SWIFT abschnitt, ist nicht zusammengebrochen. Im Verlauf des Krieges schwankte der Kurs des Dollar gegenüber dem Rubel und ist nun sogar wieder stärker als vor dem Krieg. „Warum“ fragt man sich verwundert. Grund für diese Stabilität ist, dass die russische Leistungsbilanz trotz der verordneten Abschottung steigt und einen Überschuss vorweisen kann – die Exporte übertreffen die Importe, was die USA nicht von sich behaupten können. Das liegt, wen wundert`s, auch an den Energiepreisen, die der Westen durch seine Boykott-Beschlüsse weit in den Norden katapultierte.
Die russische Volkswirtschaft erlebte, wie der Westen auch, im vergangenen Jahr eine Delle und wird 2023 laut der Vorhersage des Internationalen Währungsfonds (IWF) wieder wachsen. Der IWF geht von einem Wachstum um 0,3 Prozent aus. In 2024 dürfte das russische Wachstum das deutsche deutlich übertreffen, so die IWF-Experten. Der Versuch, das Land ökonomisch in die Knie zu zwingen, ist damit gescheitert. Das sanktionserprobte Russland hat die Boykottbeschlüsse des Westens überstanden und wird sie wohl auch weiter überleben. Sergej Alexaschenko, ehemaliger stellvertretender Finanzminister der Russischen Föderation, fasste es so Anfang des Jahres zusammen, dass 2023 „ein schwieriges Jahr“ für die russische Wirtschaft sein werde, aber: „Keine Katastrophe, kein Zusammenbruch.“
Apple und Samsung und viele andere, darunter auch viele deutsche Unternehmen, manche wohl auch auf politischen Druck, haben sich zu Beginn des Krieges zwar aus dem russischen Markt zurückgezogen, die Lücke füllen aber inzwischen chinesische Hersteller wie Xiaomi, Realme und Honor. Auch bei anderen Waren wie Waschmaschinen oder Industriegütern rücken die Türkei und vor allem China nach: Insgesamt erreichten die chinesischen Exporte nach Russland im Dezember ein Rekordhoch und trugen dazu bei, den starken Rückgang im Handel mit Europa auszugleichen. Die Erzeugnisse dürften auch wesentlich billiger sein als die westlichen Güter. Und wir haben es in einem anderen Zusammenhang schon wiederholt festgestellt, die Qualitätsstandards der östlichen Konkurrenz haben sich den westlichen Standards angeglichen. Trotzdem brauchen die Russen nicht auf Original-Apple- und Samsung-Produkte etc. verzichten. Sie finden mittlerweile über die neuen Handelsrouten ihren Weg zurück nach Russland. Eine Studie zu den Sanktionsfolgen des US-Thinktanks Silverado Policy Accelerator sagt: „Smartphones von Firmen wie Apple und Samsung werden weiterhin von Dritten nach Russland geliefert. Diese Produkte werden von ihren Produktionsstandorten in Asien – manchmal über Europa, Hongkong oder andere Länder – nach Armenien und Kasachstan geliefert. Von dort werden sie nach Russland exportiert.“
Keineswegs teilen alle Firmen den politischen Willen, sich von Russland zu entkoppeln. Das Primat der Politik wird rhetorisch zwar akzeptiert und im Tagesgeschäft dann missachtet. Eine Studie von Simon Evenett und Niccolò Pisani an der Universität St. Gallen behauptet, dass nicht einmal neun Prozent der EU- und G7-Konzerne ihre Tochterunternehmen in Russland aufgelöst haben. Nur 120 Konzerne haben der Studie zufolge mindestens eine Niederlassung vor Ort komplett abgeschrieben und veräußert. Alle anderen der 1.404 analysierten Konzerne mit 2.405 russischen Tochterunternehmen schlossen sich den Sanktionen nicht an. Zwanzig Prozent der Unternehmen, welche in Russland nach diesen Kriterien noch aktiv sind, kommen aus Deutschland.
Auch auf der russischen Exportseite läuft das Geschäft. Die Welt ist bekanntlich weiterhin an den russischen Rohstoffen interessiert. Kaum hatte der Westen seine Öl- und Gasbezüge weitgehend eingestellt, sprangen neue Abnehmer ein. Laut dem Nachrichtenportal Bloomberg fließen rund 2,5 Millionen Barrel Öl pro Tag an die Türkei, China, Indien und viele afrikanische Staaten. Wenn auch zu verbilligten Preisen…
Übrigens, Deutschland erhält neben Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Spanien laut der Lobbyvereinigung „Zukunft Gas“ immer noch russisches LNG. OK, auch das sollte immer weniger werden…
Als Fazit kann man ziehen, die Sanktionen können nicht wirklich wirken. Die Welt ist nicht mehr zweigeteilt in Ost und West. Damals waren die Embargos noch weitaus umfangreicher wirksam. Aber auch damals gab es schon geheime Kanäle, um diese zu umgehen. Denken wir an die kommerzielle Koordinierung in der ehemaligen DDR oder an das Büro 39 in Nordkorea heute.
Als Fazit bleibt zu ziehen, die westliche Politik hat sich mit den Sanktionen selbst mehr geschadet. Sanktionen sind ein untaugliches Mittel, sofern sie nicht global unterstützt und durchgesetzt werden. Und danach sieht es heute immer weniger aus.