Kommentar von Hermann Kutzer, ehem. Börsenkorrespondent für das Handelsblatt und “N-TV”
Der Mai ist gekommen. Da kommt der Börsenbeobachter nicht an der Uralt-Devise des „Sell in May and go away“ vorbei, die ursprünglich auch noch daran erinnert, im November an den Markt zurückzukehren. Muss man diesen Spruch wirklich ernst nehmen? Man kann, muss aber nicht. Ich halte es lieber mit der sarkastischen Warnung von Mark Twain, dass jeder Monat an der Börse „besonders gefährlich“ sei („October: This is one of the peculiarly dangerous months to speculate in stocks. The others are July, January, September, April, November, May, March, June, December, August, and February.“; aus dem Buch ‚Pudd’nhead Wilson‘,1894). Nein, wenn Sie zum Kreis der langfristigen Anleger gehören, liebe Leser, sollten Sie diese Empfehlungen eher als Provokation werten und unabhängig vom Kalender Ihre Chancen am Aktienmarkt suchen!
Wie sieht die Ausgangssituation heute aus? Schon beim Start hakt es. Der bisherigen Jahresverlauf war so nicht erwartet worden, die gute Verfassung des Aktienmarkts ist sogar eine echte Überraschung. Bis dahin sind sich alle Akteure einig. Ganz anders aber der Blick nach vorn – da kann der Anleger kein klares Bild erkennen: Wollte man die Analysen, Meinungen und Prognosen zu den wirtschaftlichen Aussichten im weiteren Jahresverlauf umfassend studieren, hätte man viel zu tun – ohne Aussicht auf ein klares Bild.
Dazu gibt es Umfragen am laufenden Band (von Forschungsinstituten wie Sentix, Ifo und ZEW) mit unterschiedlichen Ergebnissen, die in kurzen Abständen revidiert werden. Überschattet werden die so gewonnen Daten noch von den seit langem anhaltendem Kontroversen der Experten über den monetären Kurs der führenden Notenbanken in Abhängigkeit von den Inflationsraten. Nicht zuletzt beeinflussen ungezählte Berichte von Investmentfonds, Banken und anderen Anlageexperten das Marktgeschehen im Allgemeinen (Märkte, Länder, Themen) wie im Besonderen (Einzelanalysen von Branchen und Unternehmen).
Schnelles Rein-raus der Großanleger
Damit nicht genug. Börsenstimmung und Börsenkurse entwickeln sich nicht mehr im Gleichlauf. Volatilität ist ein Begriff, den man heutzutage börsentäglich einsetzen kann. Grund: Die Anlegergruppen verhalten sich uneinheitlich, was nicht immer sofort zu erkennen ist. Eine mitentscheidende Rolle spielt oft die Taktik ausländischer Großanleger, die in jüngster Zeit ihre Aktienpositionen in Europa deutlich abgebaut haben sollen. Überhaupt wechseln die Favoriten häufiger, weil viele Investoren zunehmend kurzfristig vorgehen – das schnelle Rein-raus ist Mode geworden.
Privatanleger können mehrere Wege beschreiten
Dies kann keine vollständige Übersicht sein. Der Privatanleger, der sich möglichst zum „Selbstentscheider“ (mit oder ohne Beratung durch Anlageprofis) entwickeln sollte, kann strategisch (langfristig) und taktisch (kurz- bis mittelfristig) viele Wege beschreiten. Dazu stehen ihm allein am Aktienmarkt zahlreiche Titel und Instrumente zur Verfügung. Nach meiner Einschätzung kann sich die Normalisierung des wirtschaftlichen Börsenumfelds länger hinziehen als es unser Bundeswirtschaftsminister glaubt. Im einzelnen überwiegen zu viele Fragezeichen. Doch berichten nicht wenige Aktiengesellschaften auf beiden Seiten des Atlantiks von einer geschäftlichen und ertragsmäßigen Aufwärtsentwicklung. Kein Wunder, dass erfahrene Börsianer inzwischen das „Stockpicking“ bevorzugen.
Deutschland, USA und China/Indien als Schwerpunkte
Als einen unter vielen denkbaren Strategien (2023/24 und länger) würde mich Ihnen, geschätzte Anleger, ein international gemischtes Aktiendepot mit drei Kernelementen vorschlagen: Deutschland, USA und China/Indien, wobei sich neben ausgesuchten Einzelwerten (zum Beispiel dividendenstarke Aktien und Tech-Giganten) Investmentfonds und, ETFs für Regionen (Asien) anbieten. In jedem Fall sollten die Verlustrisiken durch Stop-loss begrenzt werden! Dazu Gold in physischer Form als Sicherheitselement fürs Portfolio – das macht immer Sinn.
Übrigens: Das Deutsche Aktieninstitut (DAI) hat eine neues Rendite-Dreieck zum MSCI World-Index präsentiert. Die farbige Grafik zeigt anschaulich die langfristige Performance und ergänzt das Portfolio an DAI-Rendite-Dreiecken zu Dax und Euro-Stoxx. Eine monatliche Geldanlage in den MSCI World erbrachte in den letzten 20 Jahren eine Rendite von 9,4 Prozent im Jahr, wie aus dem Rendite-Dreieck sofort erkennbar wird.