Kommentar von Hermann Kutzer, ehem. Börsenkorrespondent für das Handelsblatt und “N-TV”
Meine letzte Headline an dieser Stelle („Nach der Vorsicht kommt die Zuversicht“) klang den Börsen-Bären vielleicht noch zu zuversichtlich. Deswegen schiebe ich ein zumindest saisonal passendes Bild aus dem Wetterbericht nach: Wir erleben Tiefdruckgebiete mit teils schweren Sommergewittern. Eine Überraschung? Versuchen wir doch einmal, die klassischen Fundamentalfaktoren zu vernachlässigen. Also keine Vergleiche von KGVs und ähnlichen Kriterien. Trotzdem die Frage: Stehen die Kurse (noch) hoch oder (schon) niedrig, sind die Aktien also trotz empfindlicher Verluste ziemlich teuer oder bereits billig? Humorlose Analysten mögen den Kopf schütteln, wenn man sich derart unsystematisch einer Antwort nähern möchte.
Der bisherige Verlauf 2022: Die Mehrheit der Fachwelt hat sich geirrt. Auch die Damen und Herren Notenbanker. Doch ist das keine Überraschung angesichts der unberechenbaren und schwerwiegenden Veränderungen des geopolitischen und wirtschaftlichen Umfelds. Die Halbjahresbilanz der Welt-Aktienmärkte ist miserabel: ein Kursrutsch von grosso modo 20 %. Aber das allein ist es ja nicht, denn neben dem Aktienmarkt standen auch fast alle anderen Anlageklassen unter Verkaufsdruck – vom Rentenmarkt bis zum Bitcoin. Enttäuschend (trotz Krisenstimmung) selbst das blasse Gold. Und die Realzinsen bleiben auf absehbare Zeit negativ. Wohin also mit dem Geld? Auch wenn die seit langem heißdiskutierte Zinswende der großen Notenbanken mittlerweile eingeleitet wurde, wäre es kein Wunder gewesen, wenn die Märkte schon früher und noch heftiger reagiert hätten. Aber es gibt ja auch so etwas wie den Gewöhnungseffekt.
Aber es geht um mehr, viel mehr! Der Krieg in Europa und neue Pandemiewellen sind zwei katastrophal wirkende Entwicklungen mit globaler Ausstrahlung – direkt oder mittelbar. Die Folgen erweisen sich als unkalkulierbar – allen voran die historisch hohe Inflation, die Explosion der Energie- und Lebensmittelpreise (mit drohender Verknappung). Die Armut nimmt selbst in Deutschland zu. Zeitlich parallel breitet sich auf der stündlichen Halbkugel die entsetzliche Hungersnot dramatisch aus, wird das Trinkwasser (trotz der Unwetter) sogar in einigen Regionen Europas und auch hierzulande gefährlich knapp. Wichtig ist zu erkennen, dass diese gewaltigen Herausforderungen miteinander verbunden sind. Allein die mit der Inflation entstandenen Probleme werden die Staatsverschuldung in unbekannte Höhen treiben.
Nein, die Talsohle der Börsenkurse dürfte noch nicht erreicht sein. Ob es im Verlauf des zweiten Halbjahrs wieder aufwärts gehen wird? Gut möglich, aber nicht absehbar. Ich würde keine großen Beträge darauf wetten.