Gastkommentar von Stefan Riße, Finanzanalyst und Börsenkorrespondent für “N-TV”
Die Aktien vollführen seit Jahresanfang einen schier unglaublichen Lauf. Da steigen die Zinsen absolut gesehen so stark und schnell wie seit 40 Jahren nicht mehr und prozentual gesehen mit Abstand so stark wie noch nie.
Es gibt erste Auswirkungen in der Bankenlandschaft. Stichwort: Pleite Silicon Valley Bank und Zwangsübernahme der altehrwürdigen Credit Suisse. Mit der berühmten Marke Tupperware gibt es nun auch in der Unternehmenslandschaft erste Spuren der gestiegenen Kreditkosten bei stark verschuldeten Konzernen.
Außerdem haben alle Fracksausen wegen des Gewerbeimmobilienmarktes, der auf der einen Seite vom E-Commerce und dem Trend zum Home-Office und auf der anderen Seite von den stark gestiegenen Zinsen in die Zange genommen wird. Weitere Probleme bei den finanzierenden Banken oder Schattenbanken sind erwartbar. Und was machen die Aktien? Sie fallen nicht etwa, sondern sie steigen und steigen und steigen seit ihrem Tief im Oktober um über 30 Prozent, gemessen am DAX.
Investoren und Anfänger im Vorteil
Wer versucht, die Börse in Bezug auf die monetäre und technische Verfassung des Marktes zu „timen“ und sich da auf seine langjährige Erfahrung stützt, der ist momentan der „Gelackmeierte“. Denn aller Erfahrung nach müsste es mit den Aktienkursen schon lange nach unten gehen.
Ja, die Unternehmen haben gut verdient, vor allem auch durch die Inflation. Seit Ende 2020 sind die Güterpreise in den USA nominal um rund 26 Prozent gestiegen, real sind sie jedoch gleichgeblieben. Für Unternehmen des produzierenden Gewerbes bedeutet dies im Durchschnitt ein Umsatz- und Gewinnanstieg um 26 Prozent, ohne dass sie mehr Güter verkaufen mussten.
Dennoch, an der Börse wird die Zukunft gespielt, und auch da muss bezüglich der Unternehmensgewinne vor dem Hintergrund der vielen Rezessionssignale mit Enttäuschungen gerechnet werden. Das gepaart mit einer immer noch restriktiver werdenden Geldpolitik war historisch betrachtet immer der Cocktail für fallende Kurse.
Wer unbelastet von dieser Erfahrung ist – weil relativ neu an der Börse – und unbedarft auf einen weiteren Anstieg der Kurse gesetzt hat, der ist derzeit im Vorteil gegenüber denjenigen, die sich von ihrer Erfahrung haben leiten und damit vorsichtig werden lassen. Und wie nicht selten sind auch die im Vorteil, die sich als Investor in Unternehmen betrachten, also die Warren Buffetts dieser Welt, die sich für Börsenzyklen gar nicht interessieren, sondern nur für die zu erwartenden Erträge ihrer Unternehmen. Ich darf mich daher auch glücklich schätzen, da ich für ein Haus arbeite, dessen Grundphilosophie die gleiche ist.
Ist 2 x 2 dieses Mal 5 und nicht 5 – 1?
Es gab in der Börsengeschichte immer wieder Börsenphasen, in denen unbedarfte und unerfahrene Anleger im Vorteil waren. Aus meiner eigenen Erfahrung fällt einem da vor allen der Internetboom Ende der Neunzigerjahre ein, der bis ins neue Jahrtausend reichte.
Da warf so mancher Fondsmanager das Handtuch, weil er die Welt nicht mehr verstand. Und Studenten verließen protestierend den Hörsaal, als Warren Buffett bei einem Gastvortrag in Harvard voraussagte, dass all dies böse enden würde. In Deutschland wurde Börsenaltmeister André Kostolany in der NDR-Talkshow ausgelacht, weil er ein Blutbad dieser Technologiewerte prognostizierte. Wer am Ende recht bekam, ist bekannt.
2021 war auch so ein Jahr, wo Börseneinsteiger mit ihren neu eröffneten Konten bei den Neobrokern viel Geld vor allem mit Technologieunternehmen verdienten, die selbst noch kein Geld verdienten oder den so genannten Meme-Aktien. Stichwort: Gamestop, AMC, Bad & Beyond etc.
Bezüglich letzterer Aktiengruppen sind die Höhenflieger von der Realität längst wieder auf den Boden der Realität zurückgeholt worden. Sämtliche Outperformance hat sich in Verluste verwandelt. Insgesamt gesehen stehen die Aktien, die großen Indizes betrachtet, aber nach wie vor sehr gut da. Gilt hier erstmals nicht der Satz von Kostolany, der da lautet: 2 x 2 = 5 – 1? Er meinte damit, dass an der Börse schon alles kommen würde, wie es logisch sei, es aber zumeist über einen Umweg gehe, bevor die -1 eintreten würden. Ist dieses Mal also 2 x 2 = 5?
Die Pessimisten führen sich selbst ad absurdum
Auch ich bin überrascht von dieser extrem guten Aktienperformance, vor allem vor dem Hintergrund der restriktiven Geldpolitik. Regelmäßige Leser meiner Kolumne hier oder anderswo wissen dies. Und natürlich komme ich auch nicht um die Frage herum, ob dieses Mal vielleicht alles anders ist? Taucht diese Frage auf, ist es meistens das Signal dafür, dass bald die Umkehr zum Logischen kommt.
Nichtsdestotrotz muss der Börsianer immer mit allem rechnen und auch dem Gegenteil von allem. Es geht diesmal ja auch nicht um eine völlig absurde Überbewertung – diese ist partiell wie beschrieben bereits korrigiert – sondern es geht um übliche Kursverläufe in Phasen von Rezessionen und restriktiver Geldpolitik. Das ist schon noch ein Unterschied.
Will man eine Begründung für den vor diesem Hintergrund derzeit überraschend starken Aktienmarkt finden, dann fällt einem aus fundamentaler Sicht eben die Inflation ein, vor der Aktien eben schützen können und die wie oben vorgerechnet, die Fundamentaldaten gut aussehen lässt. Das ist der übergeordnete Blick. Schaut man sich die einzelnen Kursschübe der vergangenen Monate an, dann scheint vor allem die schlechte Stimmung selbst und die dementsprechende Positionierung der Anleger die Kurse nach oben zu treiben.
Es ist immer diese auch hier in früheren Kolumnen schon beschriebene Mischung aus Anlegern, die sich an Benchmarks orientieren und die unter dem Druck steigender Kurse dann doch kaufen müssen. Und diejenigen, die mit Leerverkäufen oder entsprechenden Derivaten auf fallende Kurse setzen, und deren Verlustbegrenzungen in einem steigenden Markt wiederum zu hoher Nachfrage führen.
Wenn in einer solchen Situation die ängstlichen Anleger ausverkauft haben und die Papiere bei den echten Investoren liegen, die sich nur für die fundamentalen langfristigem Aussichten ihrer Investments interessieren, dann kommt halt kaum Angebot auf den Markt.
In einer solchen Situation treibt die aus der Not geborene Nachfrage die Kurse dann immer weiter nach oben. Trägt dies nun komplett durch diese an sich widrige wirtschafts- und geldpolitische Phase oder kommt das dicke Ende noch?
Ich tendiere nach wie vor zu Letzterem, bin aber darauf gefasst, dass es möglicherweise doch nicht mehr so kommt. Wenn es so wäre, dann wäre es ein doppeltes Novum. Entweder wäre es das erste Mal, dass es nicht zu einer Rezession käme, obwohl diverse Indikatoren mit in der Vergangenheit einhundertprozentiger Treffsicherheit darauf hindeuten.
Oder kommt es doch zu einer Rezession, dann wäre es das erste Mal, dass der Aktienmarkt seine Tiefstkurse aus dem letzten Jahr nicht mehr unterschreiten würde. Denn noch nie seit einhundert Jahren erreichte der Aktienmarkt sein Tief schon vor Ausbruch der Rezession.