Kutzers Zwischenruf:
Lockdown und die Erinnerung an die Präsenzbörse
Lockdown und Präsenzbörse? Unvorstellbar. Ich erinnere mich viele Jahre zurück, nach einer Vortragsveranstaltung: „Wir machen mit unserem Landfrauenverein demnächst einen Tagesausflug nach Frankfurt und besuchen auch die Börse. Sehen wir Sie dann, Herr Kutzer? Ich konnte der mittelalten Dame aus Sachsen leider keine feste Zusage geben, sondern musste sie enttäuschen: „Sie wissen hoffentlich, dass Börse von heute nicht mehr so ist wie früher … Man kann zwar den großen Börsensaal nach wie vor besichtigen, doch da ist nix mehr los – da wird nicht mehr rumgeschrien und wild gestikuliert. Die Profis verbergen sich hinter den Monitoren ihrer Computer. Nee, die Börse ist heute ein Showroom, damit die Fernsehsender berichten und Interviews mit Promis führen können.“ Die Dame aus Sachsen reagierte gelassen, aber ihre Miene wurde leicht säuerlich. Ich empfahl ihr andere Attraktionen von „Mainhattan“ wie den Zoo und den Palmengarten.
Es gibt zahlreiche Texte und Illustrationen, die anschaulich schildern, wies es früher einmal war. „Ein gellendes Schreien und Rufen“, man schreibt das Jahr 1905. Es ist die Zeit der Droschken und Equipagen, als der Schriftsteller A. Oskar Klaußmann die Berliner Börse besucht. Er erlebt einen eindrucksvollen Tag mit tumulthaftem Geschehen, welches das allgemeine Volk nur schwer versteht. Ich wäre nur zu gern dabei gewesen. Klaußmann berichtet:
Wir kommen gegen zwölf Uhr mittags in Berlin über die monumentale Kaiser-Wilhelm-Brücke und sehen drüben jenseits des Spreearms, fast genau gegenüber dem Gebäude des Neuen Doms den Koloss der Berliner Börse. Ein auffallend starker Verkehr von Droschken und Privatequipagen, die sämtlich vor dem großen Säulengang halten, belehrt uns, dass die Geschäftskunden der Börse begonnen haben. Wir lösen Eintrittskarten gegen geringes Entgelt und öffnen die Tür, die vom Korridor durch einen kurzen Seitengang nach der Galerie führt.
In dem Augenblick aber, in dem wir die Hand auf die Klinke der Tür gelegt haben, ziehen wir sie erschrocken zurück. Ein gellendes Schreien und Rufen beängstigender Art tönt uns entgegen. Es klingt als schrien in furchtbarster Todesangst tausend Menschen auf einem sinkenden Schiff. Angst und Neugier treiben uns aber vorwärts, im nächsten Augenblick stehen wir auf der schmalen Börsengalerie, und ein im wahrsten Sinne des Wortes betäubender Lärm dringt zu uns herauf.
Über das weiße Marmorgeländer hinunter sehen wir in einen Saal, in welchem aufgeregte, schreiende Menschen durcheinanderwirbeln, sich in Gruppen zusammendrängen und in einer Ecke in lebensgefährlichem Gedränge sich stauen. Hunderte, Tausende von Händen sieht man in die Luft gestreckt, Tausende von Menschen schreien, und der Widerhall, zurückgeworfen von der gewölbten Decke des mehr als drei Etagen hohen, riesenhaft langen Saales, dröhnt in unsere Ohren wie das Summen und Surren einer großen Dynamomaschine.
Es geht jedem Besucher so, der zum ersten Mal auf die Börsengalerie tritt. Er braucht einige Zeit, um sich zu sammeln, um sein Ohr an die auf die einstürmenden Töne zu gewöhnen, ja um ein gewisses Angstgefühl loszuwerden. Der mächtige Saal da unten, der größte Berlins, in dem wohl bequem 10.000 Menschen (!) Platz hätten, ist durch Säulenreihen in drei gleichgroße Teile geteilt, und unten bewegen sich jetzt in der Börsenzeit zwischen 12 und 3 Uhr gleichzeitig ungefähr 3.500 Personen. Da jedoch einzelne von ihnen nur kürzere Zeit bleiben und durch Neuankommende ergänzt werden, verkehren in der Börsenzeit ungefähr 6.000 Personen in diesem Saale. Soweit die Schilderung des Schriftstellers.
Wahnsinn. Dafür reicht auch die Fantasie heutiger Wertpapierhändler nicht. Dabei ist es richtig spannend, sich in die Jahrhunderte deutscher Börsen einzulesen. Ich empfehle dazu alte Illustrationen zu suchen (man kann sie beispielsweise unter „Stiche von der Berliner Börse“ googeln!). Aber überall im Land gab es einmal Börsen für alles Mögliche (u.a. auch für Rohstoffe). Und in deren wechselhafter Entwicklung kam schon vor Generationen der Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Politik deutlich zum Ausdruck – etwas, was viele Experten und „Experten“ bis heute nicht kapieren.
PS.: Anlass für diese Reminiszenz sind die aktuellen Forderungen nach einem harten Lockdown in Deutschland. Ich denke sehr gern zurück, an meine analogen 1970er bis 1990er Börsenjahre – als Börse noch Börse war.
Es gibt zahlreiche Texte und Illustrationen, die anschaulich schildern, wies es früher einmal war. „Ein gellendes Schreien und Rufen“, man schreibt das Jahr 1905. Es ist die Zeit der Droschken und Equipagen, als der Schriftsteller A. Oskar Klaußmann die Berliner Börse besucht. Er erlebt einen eindrucksvollen Tag mit tumulthaftem Geschehen, welches das allgemeine Volk nur schwer versteht. Ich wäre nur zu gern dabei gewesen. Klaußmann berichtet:
Wir kommen gegen zwölf Uhr mittags in Berlin über die monumentale Kaiser-Wilhelm-Brücke und sehen drüben jenseits des Spreearms, fast genau gegenüber dem Gebäude des Neuen Doms den Koloss der Berliner Börse. Ein auffallend starker Verkehr von Droschken und Privatequipagen, die sämtlich vor dem großen Säulengang halten, belehrt uns, dass die Geschäftskunden der Börse begonnen haben. Wir lösen Eintrittskarten gegen geringes Entgelt und öffnen die Tür, die vom Korridor durch einen kurzen Seitengang nach der Galerie führt.
In dem Augenblick aber, in dem wir die Hand auf die Klinke der Tür gelegt haben, ziehen wir sie erschrocken zurück. Ein gellendes Schreien und Rufen beängstigender Art tönt uns entgegen. Es klingt als schrien in furchtbarster Todesangst tausend Menschen auf einem sinkenden Schiff. Angst und Neugier treiben uns aber vorwärts, im nächsten Augenblick stehen wir auf der schmalen Börsengalerie, und ein im wahrsten Sinne des Wortes betäubender Lärm dringt zu uns herauf.
Über das weiße Marmorgeländer hinunter sehen wir in einen Saal, in welchem aufgeregte, schreiende Menschen durcheinanderwirbeln, sich in Gruppen zusammendrängen und in einer Ecke in lebensgefährlichem Gedränge sich stauen. Hunderte, Tausende von Händen sieht man in die Luft gestreckt, Tausende von Menschen schreien, und der Widerhall, zurückgeworfen von der gewölbten Decke des mehr als drei Etagen hohen, riesenhaft langen Saales, dröhnt in unsere Ohren wie das Summen und Surren einer großen Dynamomaschine.
Es geht jedem Besucher so, der zum ersten Mal auf die Börsengalerie tritt. Er braucht einige Zeit, um sich zu sammeln, um sein Ohr an die auf die einstürmenden Töne zu gewöhnen, ja um ein gewisses Angstgefühl loszuwerden. Der mächtige Saal da unten, der größte Berlins, in dem wohl bequem 10.000 Menschen (!) Platz hätten, ist durch Säulenreihen in drei gleichgroße Teile geteilt, und unten bewegen sich jetzt in der Börsenzeit zwischen 12 und 3 Uhr gleichzeitig ungefähr 3.500 Personen. Da jedoch einzelne von ihnen nur kürzere Zeit bleiben und durch Neuankommende ergänzt werden, verkehren in der Börsenzeit ungefähr 6.000 Personen in diesem Saale. Soweit die Schilderung des Schriftstellers.
Wahnsinn. Dafür reicht auch die Fantasie heutiger Wertpapierhändler nicht. Dabei ist es richtig spannend, sich in die Jahrhunderte deutscher Börsen einzulesen. Ich empfehle dazu alte Illustrationen zu suchen (man kann sie beispielsweise unter „Stiche von der Berliner Börse“ googeln!). Aber überall im Land gab es einmal Börsen für alles Mögliche (u.a. auch für Rohstoffe). Und in deren wechselhafter Entwicklung kam schon vor Generationen der Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Politik deutlich zum Ausdruck – etwas, was viele Experten und „Experten“ bis heute nicht kapieren.
PS.: Anlass für diese Reminiszenz sind die aktuellen Forderungen nach einem harten Lockdown in Deutschland. Ich denke sehr gern zurück, an meine analogen 1970er bis 1990er Börsenjahre – als Börse noch Börse war.