Kommentar von Hermann Kutzer, ehem. Börsenkorrespondent für das Handelsblatt und “N-TV”
Kutzers Zwischenruf: Die Börse kennt keinen Kalender
Professionelle Anleger kennen wichtige (= vielleicht kursrelevante) Termine und berücksichtigen diese in ihrer kurzfristigen Taktik. Typische Beispiele sind Notenbanksitzungen und Veröffentlichungen von Konjunktur-Frühindikatoren. Saisoneinflüsse spielen dagegen nur eine untergeordnete Rolle, wenn überhaupt. Deshalb sollten auch Sie, geschätzte Privatanleger, nicht den oft zitierten kalendarischen „Regeln“ folgen (z.B. „Sell in May …“). Vergessen Sie am besten auch die amerikanische Statistik über den „schlechtesten Börsenmonat“ – den September. Gerne teile ich im Folgenden Analyse von Thomas Grüner, Gründer und Vice Chairman von Grüner Fisher Investments.
Rational denkenden Anlegern bereiten Analysen und Börsenmythen, die auf den Kalender fokussiert sind, kein allzu großes Kopfzerbrechen, sagt Grüner. Aktienmärkte lassen sich nicht vom Kalender beeinflussen. Sie sind effizient und verarbeiten alle weithin bekannten Informationen nahezu augenblicklich. Es ist also ein wenig erfolgsversprechendes Unterfangen, seine Strategie an saisonalen Mustern auszurichten. Und der September ist bei näherer Betrachtung kein Kandidat für einen kategorischen Marktaustritt. Der laufende Monat ist nicht vorbelastet. Eine stimmungsgetriebene Korrektur kann allerdings jederzeit auftreten – ganz unabhängig von der Kalenderbetrachtung.
Als Verfechter der ganz langfristigen Aktienanlage möchte ich zum wiederholten Mal unterstreichen, was auch in der Analyse zum Ausdruck gebracht wird: Für langfristige Investoren zählt nicht das kurzfristige Timing, sondern die langfristig positive Entwicklung. Wer Korrekturen timen will und dabei die zeitliche Länge der vorangegangenen Aufwärtsphase, Kurs- oder Renditezahlen oder eben den Kalender zu Rate zieht, der betreibt ein gefährliches Spiel. Wer dagegen langfristig die überdurchschnittlichen Renditen der Aktien erreichen will, sollte in den übergeordneten Bullen-Märkten investiert sein – und den Marktaustritt nur in einem fundamentalen und anhaltenden Bären-Markt vollziehen. Der Kalender schafft Raum für Mythen und macht die Datenanalyse unterhaltsamer. Am Ende fahren Anleger jedoch besser damit, wenn sie sich nicht auf kurzfristige Timing-Spielchen einlassen.
Ich beobachte seit mehr als meinem halben Jahrhundert die kurzfristigen Kurszuckungen und langfristigen Trends. Eine Empfehlung am Rande: Achten Sie das eine oder andere Mal darauf, wie oft in täglichen Börsenberichten von „Anleger warten auf …“ oder „Börse wartet auf …“ die Rede ist – und nach dem Ereignis sich die Kurse doch nicht deshalb bewegen. Außerdem sollten Sie zwei weltbekannte Aussprüche von Mark Twain (1835 – 1910) verinnerlichen, liebe Leser: „Für Börsenspekulationen ist der Februar einer der gefährlichsten Monate. Die anderen sind Juli, Januar, September, April, November, Mai, März, Juni, Dezember, August und Oktober.“ Und: „Es gibt zwei Zeiten im menschlichen Leben, in denen man nicht spekulieren sollte: Wenn man es sich nicht leisten kann, und wenn man es kann.“