Kommentar von Hermann Kutzer, ehem. Börsenkorrespondent für das Handelsblatt und “N-TV”
Kutzers Zwischenruf:
Anleger sollten Prognosen 2022 noch kritisch verfolgen
Was nutzen konkrete Kurs- und Indexprognosen dem Anleger? Es gibt Pros und Cons. Die einfachste Antwort lautet: Wir haben uns daran gewöhnt. Die Vorhersagen zum Aktienmarkt stoßen insbesondere zum Jahreswechsel auf breites Interesse. Je genauer (= mutiger) sie sind, umso mehr werden sie in die eigenen Überlegungen integriert. Wertvoll können sie aber nur für Marktteilnehmer sein, die den kritisch-distanzierten Blick behalten und flexibel die Korrekturen der Prognosen im Jahresverlauf berücksichtigen. Fondsmanager Roger Peeters hat eine klare Meinung zu Sinn und Unsinn konkreter Punktprognosen für Aktienkurse. Er schätzt zwar durchaus die analytisch erklärenden Arbeiten von Strategen, wie er in einem Beitrag für die Börse Frankfurt ableitet, kann aber einer zugespitzten Punkt-Indexprognose auf zwölf Monate nicht viel abgewinnen.
2021/22 wird es noch schwieriger, schon den Marktverlauf über Monate hinweg vorherzusagen (vom punktgenauen Jahresschluss des DAX ganz abgesehen). Die Ungewissheit über die Entwicklung entscheidender Börseneinflüsse ist einfach zu groß, die einzelnen Themen und ihre Interdependenzen sind zu komplex. Um das zu erkennen, braucht man nur ein paar Meldungen von heute Vormittag zu nehmen. „Und jetzt?“ könnten Sie sich dann fragen, geschätzte Leser.
Die deutsche Wirtschaft muss sich der Bundesregierung zufolge auf einen harten Corona-Winter einstellen. Angesichts des aktuellen Pandemie-Geschehens haben die konjunkturellen Risiken zuletzt wieder zugenommen, heißt es im Monatsbericht des Wirtschaftsministeriums. Im laufenden vierten Quartal dürfte die Wirtschaftsleistung daher „eher schwach ausfallen“. Ähnliches kommt aus München, denn das Ifo-Institut blickt wegen der verschärften Virus-Pandemie skeptischer auf die deutsche Konjunktur und senkt seine Prognose für 2022. Die anhaltenden Lieferengpässe und die vierte Corona-Welle bremsen die deutsche Wirtschaft spürbar aus, sagte Ifo-Konjunkturchef Timo Wollmershäuser. Die zunächst erwartete kräftige Erholung für 2022 verschiebt sich weiter nach hinten. Das Rezessionsrisiko für die deutsche Wirtschaft hat sich nach Einschätzung des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) erhöht. Der nach dem Ampelsystem arbeitende Indikator des Instituts bleibt aber noch auf „gelbrot“ und prognostiziert eine „erhöhte konjunkturelle Unsicherheit“. Und den deutschen Maschinenbauern machen die globalen Materialengpässe immer mehr zu schaffen.
Das solche Nachrichten keine Hochstimmung am Aktienmarkt auslösen, versteht sich von selbst. Ganz kurzfristig kommt noch das Fragezeichen dazu, was die richtungsweisenden Notenbanken (aktuell die amerikanische Fed) wann beschließen werden. Und das hängt von der weiteren Inflationsentwicklung ab – unter anderem.
Ich teile den vorsichtigen Optimismus der Propheten, dass sich das Bild in der zweiten Hälfte von 2022 wieder deutlich aufhellen wird – vielleicht sogar heller als bisher prognostiziert. Wem all das aber zu unsicher ist und nebulös erscheint, liebe Anleger, der möge sich auf die langfristige Aktienanlage konzentrieren – mit mindestens fünf Jahren Investmenthorizont, möglichst noch weiter.