Kommentar von Hermann Kutzer, ehem. Börsenkorrespondent für das Handelsblatt und “N-TV”
Kutzers Zwischenruf: Aktien der Emerging Markets sind im Kommen
Die wirtschaftliche Entwicklung der Schwellenländer rückt immer mehr in den internationalen Fokus. Das galt bisher schon für das volkswirtschaftliche Wachstum und den spektakulären Aufschwung innovativer Unternehmen. Demgegenüber und im Vergleich zu führenden Indizes der Industrienationen sind die Aktienmärkte der Emerging Markets (EM) relativ zurückgeblieben. Zahlreiche Anlagestrategen sehen inzwischen einen beachtlichen (wenn auch unterschiedlich großen) Nachholbedarf. Das spürbar zunehmende Interesse internationaler Investoren kommt auch in den vermehrten Analysen und Prognosen zu den Chancen auf den Schwellenmärkten zum Ausdruck.
Die Vordenker des Investment-Giganten Alliance Bernstein (AB) haben in einer historischen Betrachtung untersucht, was hinter der Entkopplung zwischen Wirtschaftswachstum und Aktienbewertungen steckt und liefern dazu interessante Zahlen: Das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den Schwellenländern wuchs in den vergangenen zehn Jahren im Durchschnitt um 4,1 Prozent pro Jahr und lag damit deutlich über dem der Industrieländer von 1,5 Prozent – ein Trend, der sich fortsetzen dürfte. China führte die Gruppe der größeren Länder an, aber auch viele kleinere Länder – darunter Vietnam, die Türkei, die Elfenbeinküste und die Dominikanische Republik – verzeichneten ein überdurchschnittliches Wachstum. Ein weiterer Fakt, der die Stärke der Emerging Markets verdeutlicht: im Jahr 2010 kamen 68 Prozent der Fortune-500-Unternehmen aus den G7-Ländern und 17 Prozent aus Schwellenländern. Am Ende des Jahres 2020 hatte sich der Anteil der EM-Unternehmen auf 34 Prozent fast verdoppelt. Außerdem waren 124 in China ansässige Unternehmen unter den größten 500 globalen Konzernen vertreten und verdrängten die USA so auf den zweiten Platz.
Überraschen kann andererseits, dass die Aktienerträge insgesamt nicht höher waren. AB führt diese Entwicklung auf das Gewinnwachstum und die Bewertungen zurück. In den letzten zehn Jahren stieg zum Beispiel der Gewinn pro Aktie des chinesischen Internet-Unternehmens Tencentvon 1,05 auf 14,82 und der von Samsung Electronics von 1.660 auf 5.778. Die Aktienindizes der Schwellenländer enthalten jedoch auch eine Reihe weniger wettbewerbsfähigen Unternehmen, von denen viele stark von staatlichen Eigentümern oder Regulierungsbehörden beeinflusst werden. Diese drückten das gesamte Gewinnwachstum auf 5 Prozent (insgesamt, nicht annualisiert) gegenüber 104 Prozent für den S&P 500. Infolgedessen haben die Anleger die Gesamtbewertungen in den Schwellenländern von 2011 bis heute nicht so stark nach oben getrieben wie in den USA.
Außerdem: Vor einem Jahrzehnt spiegelten die Aktienindizes der Schwellenländer Branchen wider, die typischerweise mit weniger entwickelten Volkswirtschaften in Verbindung gebracht werden – Energie- und Bergbauunternehmen, Banken und Telekommunikation standen im Vordergrund. Ein Jahrzehnt später dominieren Technologie und Innovation, darunter viele Weltmarktführer. Technologieaktien, die vor zehn Jahren nur 10 Prozent des MSCI EM-Index ausmachten, haben ihren Anteil auf 20 Prozent verdoppelt.
Im Zeitalter der Globalisierung ist davon auszugehen, dass die Kapitalströme in die Schwellenländer weiter anschwellen werden. Die starke Stimulierung durch die Zentralbanken wird auf absehbare Zeit anhalten und die wirtschaftlichen Risiken mildern. Und viele Unternehmen in den Schwellenländern werden – insbesondere nach Abklingen der Corona-Pandemie – von einer steigenden Nachfrage sowohl auf dem heimischen als auch auf dem internationalen Markt profitieren.
Viele von Ihnen, geschätzte Anleger, haben nicht die nötige Zeit oder Lust, sich intensiv um die so unterschiedlichen Schwellenländer und ihre Aktien zu kümmern. Deshalb bieten sich für längerfristig planende Investoren sowohl aktiv gemanagte Investmentfonds als auch ETFs an. Die Auswahl ist groß und bunt. Mein Vorschlag: Konzentrieren Sie sich auf Asien mit dem Schwerpunkt China. Der regionale Schwerpunkt der Emerging-Markets-ETFs liegt mit knapp 80 Prozent in Fernost. China nimmt zwischen 34 Prozent und 38 Prozent an der gesamten Marktkapitalisierung ein.