Draconolz?
Gastkommentar von Stefan Riße, Finanzanalyst und Börsenkorrespondent für “N-TV”
Ich habe an dieser Stelle mehrfach meine Befürchtung zum Ausdruck gebracht, dass Europa im Machtkampf zwischen den USA und China um die Vormachtstellung in der Welt aufgerieben zu werden droht. Und in der Tat sieht es nicht sehr vielversprechend aus. Zwar ist Europa gemessen am Bruttoinlandsprodukt sogar größer als die USA und dürfte gemessen an diesem Maßstab insofern noch später von China überholt werden. Doch Europa fehlt es an entsprechendem Zusammenhalt und einer einheitlichen Strategie, die es den beiden Mächten entgegensetzen könnte. Doch im Vergleich zu vor einem Jahr keimt in mir doch ein wenig Hoffnung auf.
Neue französisch-italienische Achse
Der Grund für meine zarte Hoffnung ist „Dracon“. Dieses Stichwort beschreibt den engen Zusammenhalt des italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi und des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Mehrfach haben Sie sich bereits getroffen und bilateral ein Abkommen zwischen beiden Ländern geschlossen. Dieses beinhaltet zwar keine weltbewegenden Maßnahmen, aber es unterstreicht den Willen zur gemeinsamen Zusammenarbeit. Mit Italien und Frankreich sind fraglos zwei Länder der Eurozone mit einem hohen Schuldenstand vereint. Die beiden Länder wollen auch eine Reform des europäischen Stabilitätspakts, der einst in Maastricht beschlossen wurde. Aus Deutschland kommen natürlich schon wieder die warnenden Stimmen. Doch man muss die deutsche Position mittlerweile als realitätsfern betrachten. Wer glaubt denn allen Ernstes, dass Frankreich mit über 100 und Italien mit über 150 Prozent Verschuldung in Relation zum Bruttoinlandsprodukt jemals wieder den Verschuldungsgrad von 60 Prozent erreichen werden, der laut Maastricht-Vertrag vorgesehen ist. Nur in einer Inflation wäre dies denkbar, ganz sicher aber nicht durch fiskalische Disziplin. Diese würde die Länder in eine schwere Rezession stürzen. Und man konnte zum Ausbruch der Corona-Pandemie in Italien vor einem Jahr beobachten, welche Folgen das zusammengesparte Gesundheitssystem zeigte.
Aus Dracon müsste Draconolz werden
Die neue deutsche Regierung sollte ihren Widerstand gegen eine Reform des Stabilitätspakt aufgeben. Denn man darf ja nicht vergessen, dass dieser in einer Zeit verabschiedet wurde, als zehnjährige Staatsanleihen noch einen Zins von fünf Prozent hatten. Bei Zinsen von null bis ein Prozent für zehnjährige Staatsanleihen ist die Schuldentragfähigkeit eine ganz andere. Natürlich könnten die Zinsen irgendwann auch wieder steigen, aber derzeit ist nicht die Zeit des Sparens, sondern des Investierens, wie wir dies eben auch in den USA und China beobachten. Auch darf nicht vergessen werden, dass beispielsweise die Verschuldung der Privathaushalte in Italien sehr gering ist und das Vermögen pro Kopf in Frankreich wie in Italien über dem deutschen Wert liegt. Dadurch relativiert sich die Nettogesamtverschuldung dieser Länder. Anstatt mit Italien und Frankreich über die Schuldenthematik zu streiten, sollte aus Dracon besser Draconolz werden. Also ein sich zu Draghi und Macron gesellender Olaf Scholz. Würden diese drei Gründungsmitglieder der europäischen Union an einem Strang ziehen, wäre viel erreicht. Denn wir haben in Europa genauso kreatives Potenzial, wie wir es auch in den USA und China beobachten können. Man muss es nur heben. Dafür muss die Zerstrittenheit der EU beendet werden. Und wer könnte das besser als diese drei genannten Länder. Auch müssten die Prozesse beschleunigt werden. Während in den USA und China Gelder bereitgestellt und Maßnahmen verabschiedet werden, müssen Sie in Europa zunächst durch alle nationalen Parlamente gebracht werden. Stellt sich nur ein Land quer, geht wegen des Vetorechts nichts voran. Auch hier gibt es Reformbedarf. Man darf nun gespannt sein, wie sich der neue Kanzler in dieser Frage positioniert, und ob der designierte Finanzminister Christian Lindner die Idee von der strengen Haushaltsdisziplin über Bord wirft. Ich weiß, das ist in Deutschland nicht populär, doch der Wahlkampf ist ja nun vorbei und es ist Zeit, die Realität zu erkennen und entsprechend zu handeln.
Europäische Aktien könnten vor einer Renaissance stehen
Im Vergleich zu den USA notieren europäische Aktien auf einem Rekordtief. Und dies hat nicht nur psychologische Gründe, die Unternehmensgewinne in den USA sind in den letzten Jahren ausgehend von den großen Technologieunternehmen auch viel schneller gewachsen als die der europäischen. Dennoch ist auch der Bewertungsabstand enorm gestiegen. Der deutlich zum Dollar gefallene Euro verschafft europäischen Unternehmen nun Wettbewerbsvorteile. Sollte sich für die Anleger dieser Welt das Bild abzeichnen, dass Europa mit neuem Schwung und vereinten Kräften den Kampf gegen China und die USA aufnimmt, könnte das die entsprechende Fantasie für europäische Aktien bringen.