Gastkommentar von Stefan Riße, Finanzanalyst und Börsenkorrespondent für “N-TV”
Tauchen wir unter dem Zinsbuckel durch? Die Zinssteigerungen seit 2022 haben viele Kreditnehmer noch nicht erreicht, da alte Kreditverträge bestehen. Erfahren Sie, wie das “Untertauchen” unter der Zinsspitze Wirtschaft und Märkte in den USA stabilisieren könnte.
Dass die US-Wirtschaft bisher nicht in eine Rezession abgerutscht ist, ist historisch betrachtet ein Novum. Der enorme Zinsanstieg in den USA seit 2022 war einer der schnellsten in der Geschichte. Von null wurde der Leitzins auf 5,5 Prozent angehoben.
Anfang der Achtzigerjahre wurden die Zinsen absolut betrachtet zwar noch stärker angehoben, prozentual gesehen war der jüngste Anstieg jedoch einmalig, da wir von einem Zinsniveau von null aus starteten. Wie häufig in Zinserhöhungszyklen bildete sich wieder eine inverse Zinsstrukturkurve, bei der zweijährige US-Staatsanleihen eine höhere Verzinsung aufweisen als zehnjährige.
Diese Konstellation entsteht, wenn die Marktteilnehmer wegen der Zinserhöhungen eine Rezession erwarten. Üblicherweise folgen dann wieder Zinssenkungen, die am langen Ende – wo Angebot und Nachfrage den Zins bestimmen – bereits eingepreist werden. Jeder negativen Zinsstrukturkurve folgte bisher eine Rezession. Doch diesmal bisher Fehlanzeige. Die längste Inversion liegt bereits hinter uns, und auch wenn sich die Wirtschaft in den USA etwas abschwächt, ist sie von einer Rezession bislang weit entfernt. Der Dienstleistungssektor läuft nach wie vor gut.
Kommen die hohen Zinsen bei den Kreditnehmern gar nicht an?
Üblicherweise wirken Zinserhöhungen mit Zeitverzögerung. Denn längst nicht alle Kredite sind variabel verzinst, sodass die Zinserhöhungen seitens der Notenbank direkt durchschlagen. Häufig laufen Kredite mehrere Jahre, und es ist anzunehmen, dass Schuldner aufgrund der langen Tiefzinsphase bewusst lange Laufzeiten gewählt haben – man denke etwa an die 100-jährige Staatsanleihe von Österreich.
Irgendwann laufen diese Kredite jedoch aus, und wenn sie dann deutlich teurer werden, könnte das hoch verschuldete Unternehmen oder auch verschuldete Verbraucher entsprechend hart treffen. Allerdings stellt sich mittlerweile die Frage, ob dies diesmal gar nicht mehr passiert, weil wir quasi „unter dem Zinsbuckel durchtauchen“. Was meine ich damit?
Viele Kredite werden erst in den kommenden Jahren fällig. Die US-Notenbank (Fed) hat jedoch bereits begonnen, die Zinsen wieder zu senken. Es wäre also denkbar, dass in dem Moment, in dem viele Zinsbindungen auslaufen, die Zinsen bereits wieder deutlich niedriger sind als heute. Dann hätten die Zinserhöhungen viele Kreditnehmer am Ende gar nicht erreicht und eine Rezession könnte vermieden werden. Denn häufig wird eine Rezession dadurch ausgelöst, dass Unternehmen unter der hohen Zinslast zusammenbrechen oder keine neuen Kredite mehr aufnehmen, weil die Zinsen schlicht zu hoch sind.
Auch die extremen Staatsausgaben der USA sprechen gegen eine Rezession; das US-Defizit wächst derzeit mit einer Rate von sieben Prozent jährlich. Dies gleicht mögliche Einbrüche bei privaten Investitionen aus, die aufgrund der höheren Zinsen nicht stattfinden.
Kommt das lange Ende in die Quere?
Soweit klingt alles zunächst positiv für die US-Wirtschaft und damit auch für die US-Aktienmärkte. Die jüngste Schwäche an der Wall Street wird allerdings damit begründet, dass die Zinsen am langen Ende momentan deutlich steigen. Das hat unter anderem damit zu tun, dass viele einen Wahlsieg von Donald Trump für wahrscheinlich halten und dieser die Staatsdefizite noch deutlicher ausweiten will.
Die Kreditnachfrage des Staates würde entsprechend steigen, was zu höheren Zinsen am langen Ende führen könnte. Denn je mehr Staatsanleihen die US-Regierung ausgibt, desto höhere Zinsen wird sie anbieten müssen, um weiterhin Käufer zu finden – so die Vermutung. Außerdem will Trump die Unabhängigkeit der US-Notenbank untergraben, was die Stabilität des US-Dollar beeinträchtigen würde. Auch in solchen Fällen verlangt der Markt höhere Zinsen.
Donald Trump, der von vielen in Wirtschaftsfragen als kompetenter betrachtet wird als seine Gegnerin Kamala Harris, könnte also letztlich doch noch für eine Rezession der US-Wirtschaft sorgen. Angesichts der aktuell anspruchsvollen Bewertungen wäre ein längerer Bärenmarkt dann wohl kaum zu vermeiden. Fazit: Kamala Harris könnte doch die bessere Kandidatin für die Aktienmärkte sein.