Gastkommentar von Stefan Riße, Finanzanalyst und Börsenkorrespondent für “N-TV”
Seit Monaten wird über den Standort Deutschland debattiert. Von Wirtschaftsverbänden über Wirtschaftsforschungsinstitute bis hin zu Unternehmen und Führungskräften oder ehemaligen Führungskräften wie beispielsweise Wolfgang Reitzle, den früheren Linde-Chef. Sein Statement in der „Welt“ machte wohl am stärksten die Runde. Er warf Deutschland und uns Deutschen vor allem mangelnde Ambitionen vor.
Und wie herrlich passten dazu die Analogien aus dem Sport. Das frühe Ausscheiden der deutschen Fußball-Herren-Nationalmannschaft bei der WM. Das gleiche mit der Frauen-Nationalmannschaft, die eigentlich wie selbstverständlich ins Halbfinale oder Finale kommen oder sogar Weltmeister werden sollten.
Dann die Leichtathletik-WM, das erste Mal in der Geschichte keine einzige Medaille für das deutsche Team. Dazu passte die Abschaffung der jährlich abgehaltenen Bundesjugendspiele wegen des zu großen Leistungsdrucks für die Schüler. Das I-Tüpfelchen markierte dann die traurige 1:4-Niederlage der Fußball-Nationalmannschaft gegen Japan.
Bringt der Sieg über Frankreich die Wende?
Alles passte so perfekt zusammen, dass jeder Kommentator und jeder Stammtischkollege diese Analogien wunderbar bemühte. Und dann? Plötzlich wird Deutschland Weltmeister im Basketball und besiegt sogar im Halbfinale die USA, die immer als Favorit galten und schon fünf Mal den Titel geholt haben.
Gut, eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, aber dann, nur zwei Tage später, schlägt Deutschland mit dem neuem Interimstrainer Rudi Völler Vize-Weltmeister Frankreich. Ist damit die Wende für den Standort Deutschland geschafft?
Gerne wäre ich so optimistisch, und viel wohler fühle ich mich in der Rolle des widersprechenden Rebellen, aber leider kann ich nicht widersprechen. Diejenigen, die sich zu Wort melden, haben recht. Sie hätten dies nur viel früher schon tun müssen. Einige haben es auch getan, ihre Warnungen passten aber vorher nicht in die Zeit und wurden überhört.
Der Standortproblem ist nicht neu
Wenn aktuell über den Standort Deutschland gesprochen wird, bekommt man den Eindruck, als sei das ein Problem, das mit dem Ukraine-Krieg daherkam. Die höheren Energiepreise, die im Übrigen jetzt ja kaum höher sind als vor dem Krieg, werden zum Dreh- und Angelpunkt.
Dazu trägt auch die Diskussion um den Industriestrompreis bei. Doch diese Betrachtung greift viel zu kurz. Der Strompreis ist nur das Tüpfelchen auf dem „I“, wie die Niederlage Deutschlands gegen Japan. Der Standort Deutschland erodiert schon seit rund zwei Jahrzehnten.
Wenn man einen Startpunkt ausmachen will, dann ist es die Regierungsübernahme durch Angela Merkel und ihre unterschiedlichen Koalitionen. Unter der vorherigen Rot-Grünen Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder gab es zumindest die Sozialreformen der Agenda 2010. Diese trugen dazu bei, dass Deutschland, das zuvor Schlusslicht in Europa gewesen war, wieder zum vermeintlichen Musterschüler avancierte. Allerdings waren die guten Noten, die das Land dann in der Merkel Ära bekam, zu einem großen Teil auf Täuschung zurückzuführen.
Keine, die die Regierung Merkel bewusst betrieben hätte, sondern eine, die sich durch äußere Einflüsse einstellte und die über die letzten Jahre bis zum Ukraine-Krieg überdeckten, dass es mit dem Standort Deutschland schon lange bergab geht.
Da ist die viel gescholtene Überbürokratie, die immer undurchschaubarer wurde. Dann die immer brüchigere Infrastruktur Deutschlands, egal ob Schienennetz, Straßen, Schulen oder digitale Infrastruktur, der Kapitalstock schmolz immer weiter ab.
Auch beim Sicherheitsapparat und der Polizei wurde der Rotstift angesetzt, mit dem Ergebnis, dass viele Bürger sich nicht mehr sicher fühlen. Aber Hurra, wir hatten ja die schwarze Null. Von der allerdings konnte und kann man sich nichts kaufen.
Dass das alles nicht auffiel, lag daran, dass Deutschland als Exportnation Nummer eins, wenn man den Anteil der Exporte am Bruttoinlandsprodukt rechnet, weltweit am stärksten von dem enormen Importsog aus China profitierte.
Dazu kam, dass wir durch den Euro eine künstlich tiefe Währung hatten. Ohne die Gemeinschaftswährung hätten wir mit der D-Mark in dieser Zeit eine viel stärkere Währung und längst nicht diese Wettbewerbsvorteile gegenüber den USA oder auch anderen Ländern Europas und Japans gehabt.
Diese beiden Aspekte waren noch viel wichtiger als die Agenda 2010 für das vordergründig gute Abschneiden Deutschlands. Kurz gesagt: Die deutsche Industrie verdiente sich dumm und dämlich am China-Boom, ob Automobilindustrie, Investitionsgüter oder auch Chemie.
Die Regierung Merkel ruhte sich auf diesen Erfolgen aus und vermied trotz Mahnungen aus der Wirtschaft dringend nötige Strukturreformen. Das ist der Vorwurf, den sie sich machen lassen muss. Gerhard Schröder opferte den Sozialreformen seine politische Karriere, Angela Merkel interessierte sich nur für die Sicherung ihrer Mehrheit und rannte deshalb der Mehrheitsmeinung fast immer hinterher.
Wir wurden ent-täuscht
Dass plötzlich die Standortprobleme Deutschlands so offensichtlich werden, spürbar durch die Rezession, in der wir stecken, sichtbar in den Wachstumsraten, die die geringsten aller Länder der Eurozone und auch der G20-Länder sind, hat nur bedingt mit dem Ukraine-Krieg, sondern vor allem mit der neuen Weltordnung zu tun.
Das Verhältnis zu China hat sich massiv verändert. Und daran sind nicht die Amerikaner mit ihrem härteren Kurs gegenüber der Volksrepublik schuld. Es war immer der öffentlich gemachte Plan Chinas, irgendwann unabhängig von Technologieimporten zu werden und alles selbst zu fertigen.
Mit der Umstellung auf die Elektromobilität wird dies in der Automobilindustrie mit einer harten Disruption sichtbar. In anderen Branchen geht es schleichender vonstatten. Was den Prozess insgesamt beschleunigt, ist die konjunkturelle Schwäche im Riesenreich, da der Immobilienmarkt, der für ein Drittel des Wachstums in den vergangenen Jahrzehnten verantwortlich war, in einer großen Krise steckt.
Früher hatte China in Schwächephasen mit staatlichen Infrastrukturmaßnahmen gegen gehalten. Aber hier sind der Regierung jetzt Grenzen gesetzt, da die Gesamtverschuldung Chinas heute höher ist als die der USA. Das war vor 20 Jahren noch ganz anders. Will China das Vertrauen in seine Währung nicht verlieren, die ja für wichtige Handelspartner eine Alternative zum US-Dollar werden soll, können sie die Verschuldung nicht unendlich weiter ausdehnen.
Das ist die neue Realität genauso wie eine protektionistischere USA, seit Donald Trump, aber auch unter der Regierung von US-Präsident Joe Biden mit Projekten wie dem Inflation Reduction Act (IRA), der nur Wertschöpfung, die in den USA passiert, subventioniert.
So wurde die schon lange angelegte Standortschwäche Deutschlands nun für alle sichtbar. Man könnte insofern sagen, dass Land wurde ent-täuscht, was im Wortsinn nämlich bedeutet, die Täuschung ist beendet.
Was muss geschehen?
So einfach wie bei der Nationalmannschaft ist die Wende nicht zu schaffen, wenn es denn dort überhaupt eine Wende war. Da es nur „einen“ Rudi Völler gibt, wie wir alle wissen, und der aber nicht weiter machen will, bleibt es abzuwarten. Die Sportanalogien halte ich ohnehin für nur sehr bedingt aussagekräftig. Wenn ein paar Elitesportler Spitzenleistungen bringen, sagt das nichts über das ganze Land aus.
Man muss nur nach Argentinien, das Land des Fußballweltmeisters schauen. Seit Jahren wirtschaftlich ein einziges Desaster. Wenn überhaupt, ist wohl die Abschaffung der Bundesjugendspiele symptomatisch für unser Land.
Die Aufgaben, die zu bewältigen sind, sind riesengroß. Ich hatte in einer vorherigen Kolumne schon mal darauf hingewiesen, dass diese Erkenntnis mittlerweile in der Regierung angekommen ist, die Umsetzung aber das Problem darstellt. Hier könnte man unzählige Beispiele aufführen.
Ich will nur das eine anführen, dass ich so eindrücklich fand: Wir alle wissen doch, dass wir in Windeseile alternative Energiequellen weiter ausbauen müssen und damit auch die Windenergie. Wenn man dem Handelsblatt glauben darf, dann scheitert das allein schon am Transport.
Wir alle kennen, wenn wir nachts mit dem Auto unterwegs sind, die Schwerlasttransporter mit den riesigen Rotorblättern der Windkrafträder. Jeder dieser Transporte muss genehmigt werden. Und dank dem ehemaligen Verkehrsminister Andi Scheuer verantwortet das jetzt die Autobahn GmbH.
Hier berichtete das Handelsblatt jüngst, Mitarbeiter seien angewiesen worden, nicht ans Telefon zu gehen, weil das interne Abläufe störe. Spediteure, die solche Transporte organisieren, sind voll frustriert. Es ist nur ein Beispiel, das zeigt, wie wir tief im Dickicht der Bürokratie stecken.
Bis die überbordenden Regelungen und Regulierungen abgeschafft oder so verändert worden sind, dass sie nicht mehr ein Hindernis darstellen, sondern förderlich sind, werden viele Jahre vergehen.
Eine Steuerreform ist auf einem Bierdeckel schnell erdacht und auch in Gesetzestext gegossen. Nicht, dass da bei der Regierungskoalition jetzt Einigkeit bestünde, aber das ließe sich doch relativ schnell machen, wie auch die Erschaffung einer geförderten privaten Altersvorsorge auf Basis von Aktien. Vielleicht kommt da sogar noch was.
Das, woran wir scheitern, wie ich fürchte, ist die Umsetzung in der vierten und fünften behördlichen Hierarchieebene darunter, wo im Klein-Klein die Dinge aus dem Auge und dann ganz verloren gehen. Nicht zu vergessen, dass die meiste Bürokratie ja nicht mehr aus Deutschland, sondern aus Europa kommt, wo die Abstimmung zwischen den Staaten eine weitere große Hürde für mehr Geschwindigkeit beim Abbau darstellt.
Aber lasst uns gemeinsam hoffen, denn was bliebe uns sonst. Wer hätte vor zwei Wochen gedacht, dass Deutschland einmal Basketball-Weltmeister wird.